Klarer Kopf trotz Reizüberflutung: So coachen Sie Hochsensible

Ca.15-20 % der Bevölkerung ist hochsensibel (HSP = Highly Sensitive Person). Das bedeutet, sie nehmen Reize aus ihrer Umwelt sehr viel stärker wahr, als andere. Dieses psychologische und neurophysiologische Phänomen führt zu extremen Stresssituationen im Alltag der Betroffenen. Expertin Eva Maria Sell verrät, was Coaches im Umgang mit Hochsensiblen beachten müssen.

 

Hochsensibilität im Job – ein Beispiel

Jürgen war von dem Projektmeeting völlig erschöpft und durchgeschwitzt. Als Entwickler einer Projektgruppe muss er diese regelmäßig stattfindenden Zusammentreffen über sich ergehen lassen. Für ihn war es mal wieder zu viel Lärm, zu viele verschiedene Gerüche und zu viele Menschen auf zu engem Raum mit zu viel Körperkontakt. Die verschiedenen Töne der Smartphones, die eingehende E-Mail ankündigten, der Straßenlärm, der durch das offene Fenster eindrang, das grelle Licht im Raum und das Stimmengewirr überlagerten die Ausführungen des Projektmanagers, der Ergebnisse und anstehenden Termine zu koordinieren versuchte. Die Stimmung seines Fachvorgesetzten war heute besonders angespannt, das konnte er deutlich spüren.

 

Wie ein Sieb, durch das die Energie verloren geht

Alltägliche Arbeitssituation, wie die von Jürgen, erleben HSP sehr viel intensiver und emotionaler. Denn das Nervensystem von hochsensiblen Menschen ist anders angelegt. Ihre Filter im Gehirn für Außenwahrnehmungen sind durchlässiger. Passend ist wohl der Vergleich mit einem Sieb, durch das unbewusst viel Energie abfließen kann, wodurch die Leistungsfähigkeit abnimmt. Jeder Mensch hat eine bestimmte Grenze an Reizen, die er täglich verarbeiten kann bis er ausgelaugt ist – bei Hochsensiblen ist diese Grenze niedriger. HSP benötigen im Übrigen mehr Rückzug und Zeit für das Verarbeiten von Ereignissen und Kommunikation mit Menschen. Sie spüren Stimmungen anderer Menschen sehr stark und verlieren dadurch häufig den Kontakt zu sich selbst.

 

Talente und Fähigkeiten von HSP

Im Gegenzug arbeiten hochsensible Mitarbeiter mit besonderer Sorgfalt bis hin zum Perfektionismus. Sie sind ganz ohne Kontrolle einsatzbereit und engagiert und bringen ein hohes Maß an Sozialkompetenz mit. Meist besitzen sie nicht nur Inselwissen, sondern sind vielseitig interessiert und offen für jegliches Fortbildungsangebot. Sie sind loyal, pflichtbewusst und verfolgen hohe moralische und ethische Werte. Durch ihre komplexe Wahrnehmungsfähigkeit bringen sie wertvolle Eigenschaften als Führungskraft mit und führen ihre Mitarbeiter sehr emphatisch. Im Zuge des Wandels – hin zu mehr Bewusstsein im Arbeitsleben – dürften das Eigenschaften sein, die zukünftig noch mehr gefordert sind.

 

Das sollten Sie als Coach für Hochsensible beachten

Hochsensible Klienten wollen gut versorgt werden und lieben Sicherheit und Orientierung
Wie geht es Ihnen? Welchen Stuhl möchten Sie heute mal ausprobieren? (Es ist sicherlich kein Platz, wo man mit dem Rücken zur Tür sitzt). Eine Auswahl an Heiß- und Kaltgetränken und auch kleine Knabbereien finden reichlich Anklang. Lassen Sie Ihren Coachee zwischendurch immer mal wieder innehalten und fragen Sie nach seinen Gefühlen. Auch die Aufforderung, sich in einer besonders anspruchsvollen Situation bewusst auf den Atem zu konzentrieren, gibt Ihrem Gegenüber das Gefühl, verstanden zu werden und unterstützt eine harmonische Zusammenarbeit. Ebenso hilfreich sind erdende Achtsamkeitsübungen, wie „wollen Sie Ihre Augen schließen und den Kontakt zu Ihren Fußsohlen und dem Boden spüren?“, um Zugang zu einer tieferen Ebene aus dem Unterbewusstsein zu erhalten.

 

E-Coaching als Entlastung

Die Tatsache, dass HSP zu viele Reize schnell erschöpft, spricht für ein E-Coaching. Damit gemeint sind Telefon-Coaching oder Video-Konferenzen, wie z.B. Skype. Vorteil für den Coachee: Er kann sein Umfeld individuell nach seinen Wünschen und Bedürfnisse gestalten, wie z.B. Raumtemperatur, Lichtverhältnisse und Sitzgelegenheit. Außerdem braucht er keine öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen oder im Stau zu stehen, um in das Büro des Coaches zu gelangen. Zudem entfällt der Aufwand, sich „fein machen“ zu müssen. Im Gesprächsverlauf kann ich als Coach zwar nicht auf die Körpersprache meines Gegenübers reagieren. Jedoch über die Stimme erhalte ich meistens viel Input über die Gefühlswelt und das derzeitige Befinden meines Klienten. Falls ich nicht ganz sicher bin, wie mein Klient die Interventionen aufnimmt, so kann ich ja jederzeit nachhaken: „Na, Frau Klein, ich habe den Eindruck, dass Sie durch meine Frage gerade sehr nachdenklich geworden sind, was ist der Grund? Wollen Sie mir dazu etwas erzählen?“ Hochsensible Coaches kennen die Bedürfnisse dieser Zielgruppe besonders gut und können sich in deren Situation hineinversetzen. Die Erfahrung, vom Coach verstanden zu werden ist häufig schon wertvoll und kann heilsam sein.

 

Wie kann ich herausfinden, ob ich selbst oder Menschen und Klienten in meinem Umfeld zu dieser Personengruppe gehören?

Dazu gibt es verschiedene Tests. Der bekannteste wurde von Elaine Aron im Jahr 1996 entwickelt und wurde in ihren Büchern veröffentlich. Weitere Informationen findet man im Internet, zum Beispiel unter: zartbesaitet.net.