Berater und Coaches versuchen meist, möglichst viele Kunden anzusprechen, in der Hoffnung, dass sie dann auch viele Aufträge gewinnen. Das Gegenteil ist meist der Fall. Wieso Sie auf die Nische setzen sollten, erfahren Sie am Beispiel des „lesbischen Brautkleides“.
„Was bitte schön ist ein lesbisches Brautkleid?“ Mit diesem Satz beginnt ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17. September, in dem die Modedesignerin Helen Bender porträtiert wird.
Sie hat sich mit ihrem Geschäft „La Mode Abyssale“ (zu Deutsch „grenzenlose Mode“) in Mainz auf lesbische Brautpaare spezialisiert. Und das Geschäft boomt. Allein 2017 ließen sich bereits 200 Frauen ein Kleid von ihm schneidern. So groß war die Nachfrage, dass Helen Bender in diesem Jahr bereits 120 Aufträge potenzieller Kundinnen ablehnen musste, da sie diese mit ihrem Personal – einer selbstständigen und zwei festangestellten Schneiderinnen, einer Auszubildenden und einer Minijob-Kraft – nicht hätte bewältigen können. Und die Nachfrage, so ihre berechtigte Vermutung, wird nach dem 1. Oktober 2017 weiter steigen. Denn dann tritt das Gesetz für gleichgeschlechtliche Ehen in Kraft, demzufolge Frauen Frauen und Männer Männer heiraten dürfen. Bisher durften sie nur eingetragene Lebenspartnerschaften schließen.
Wichtig: Auch ein emotionaler, persönlicher Bezug
Helen Bender hat mit ihrem Geschäft einen Schritt gewagt, den viele Berater, Trainer und Coaches, bildhaft gesprochen, scheuen wie der „Teufel das Weihwasser“; nämlich: sich auf eine relativ überschaubare, wohl definierte Zielgruppe zu spezialisieren – und zwar nicht irgendeine, sondern eine Zielgruppe, mit der sie sich auch emotional verbunden fühlt aufgrund ihrer Persönlichkeit und Biografie.
Helen Bender ist selbst lesbisch und lebt in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft mit einer anderen Frau. Deshalb kennt sie die Stereotypen, mit denen lesbische Frauen, die einen Bund fürs Leben schließen möchten, in den klassischen Fachgeschäften für Brautmode konfrontiert werden, bei denen maximal drei, vier Mal pro Jahr ein lesbisches Paar vorbeischaut.
Eine ähnliche Spezialisierung wagen die meisten Berater nicht – aus Angst: „Ich finde dann nicht ausreichend Kunden.“ Stattdessen versuchen sie, ein möglichst breites Netz aufzuspannen, in der Hoffnung, dass darin dann ausreichend Fische – sprich Kunden – hängen bleiben. Und erreichen damit meist just das Gegenteil.
Aufgrund ihrer Angst, sich auf eine wohldefinierte Marktnische zu spezialisieren, bleibt ihr Profil meist so allgemein, dass sie einer unter vielen Coaches sind und bleiben. Deshalb wissen ihre Zielkunden letztlich nicht, warum sie sich gerade für sie und keinen anderen Berater entscheiden sollten. Und schon gar sind sie bereit für ihre 08/15-Leistung, die man scheinbar an jeder Straßenecke kaufen kann, einen eher hohen Preis zu bezahlen.
Nischen-Positionierung hat viele Vorteile
All diesen Fallen entgeht Helen Bender mit ihrer sehr scharfen oder punktgenauen Positionierung; einer Positionierung, die auch für die meisten Coaches, die als Einzel- oder Kleinunternehmer ihr Dasein fristen, extrem viele Vorteile hätte:
Vorteil 1: Die Zielgruppe des Beraters ist klar definiert und überschaubar. Da die Zielkunden von Helen Bender alle (mindestens) drei gemeinsame Merkmale haben – nämlich sie sind Frauen, lesbisch und wollen einen Bund fürs Leben schließen – kann sie ihre Kunden (unter anderem auf ihrer Webseite, auf Messen und bei solchen Szene-Events wie dem Christopher Street Day) auch sehr gezielt ansprechen und ihnen das Gefühl vermitteln: „Diese Frau kennt uns und unser Problem“. Entsprechend gering sind nicht nur die Streuverluste bei ihrem Marketing, sondern entsprechend hoch ist auch die sogenannte Conversion-Rate – also die Zahl der Personen, die nachdem sie auf Helen Bender und ihr Geschäft stießen, ein Brautkleid kaufen – sofern sie zu ihrer Zielgruppe zählen.
Vorteil 2: Der Coach weiß, was seinen Zielkunden unter den Nägeln brennt. So weiß Helen Bender zum Beispiel aus eigener Erfahrung, mit welchen Stereotypen lesbische Brautpaare zu kämpfen haben – beispielsweise dem Vorurteil, dass auch in lesbischen Paaren stets ein Partner die Hosen anhat – beziehungsweise die eher „männliche Rolle“ innehat. Deshalb gehen die meisten Verkäufer in den klassischen Brautmode-Geschäften auch ganz selbstverständlich davon aus: Wenn ein lesbisches Paar heiratet, trägt die eine Frau ein Kleid und die andere einen Hosenanzug. Dass zum Beispiel beide ein Kleid oder einen Hosenanzug tragen möchten, kommt ihnen nicht in den Sinn – entsprechend „unpassend“ sind aus Sicht ihrer potenziellen Kundinnen oft ihre Fragen. Mit solchen und ähnlichen Stereotypen werden lesbische Frauen im Geschäft von Helen Bender nicht konfrontiert. Sie weiß auch, dass viele ihrer Kundinnen, selbst wenn sie bei ihrer Hochzeit einen Hosenanzug tragen möchten, trotzdem als Frau wirken möchten. Deshalb kann sie ihren Zielkunden verglichen mit den klassischen Brautmode-Geschäften einen echten Mehrwert bieten.
Vorteil 3: Der Coach kann sich recht einfach und schnell einen „Zielgruppen-Besitz“ aufbauen. Da Berater, die sich wie Helen Bender sehr scharf positioniert haben, stets nur für Personen oder Organisationen arbeiten, die gewisse gemeinsame Merkmale und somit typische „Probleme“ haben, erwerben sie recht schnell eine intime Kenntnis ihrer Zielgruppe; außerdem eine sehr hohe Kompetenz im Lösen von deren „Problemen“. Zudem erwerben sie bei den Mitgliedern ihrer Zielgruppe, die meist real oder digital miteinander vernetzt sind, recht rasch eine sehr hohe Bekanntheit und den Ruf „Spezialist für …“. Entsprechend schwierig wird es für potenzielle Mitbewerber, die denken „Das kann ich auch” in ihrem Markt Fuß zu fassen.
Vorteil 4: Der Coach kann (recht) hohe Preise begründen und erzielen. Wenn er erkennbar auf ein Themenfeld spezialisiert ist und in seiner Zielgruppe anerkanntermaßen „Der Spezialist für …“ ist, überrascht es keinen Kunden, dass er etwas teurer ist als seine nicht-spezialisierten Mitbewerber. Im Gegenteil: Die meisten Kunden erwarten es geradezu, dass er teurer ist als ein „Feld-Wald-und-Wiesen-Berater“. Deshalb sind sie meist auch schnell bereit, einen höheren Preis zu bezahlen.
Möglichkeiten zur Positionierung sind fast unendlich
Sie sehen, eine Nischen-Positionierung hat viele Vorzüge. Mit ihr gelingt es Beratern, Trainern und Coaches in der Regel schneller die ein, zwei Dutzend Kunden zu gewinnen, die sie zum Füllen ihrer Auftragsbücher brauchen, als mit einem großen Fischernetz, das große Löcher hat. Also sollten Sie eventuell über eine solche Positionierung nachdenken. Das kann – in Anlehnung an Helen Bender – zum Beispiel Paarberatung für lesbische Paare sein. Oder Coaching für selbstständige Handelsvertreter. Oder Mediation bei Konflikten zwischen zwei Unternehmen. Die Möglichkeiten, ausgehend von der eigenen Biografie, Persönlichkeit und Expertise, Marktnischen zu identifizieren und zu definieren sind nahezu unendlich. Denken Sie als Einzel- oder Kleinunternehmer also einmal darüber nach.
Denn unabhängig davon, welche Marktnische Sie letztlich wählen: Sie ist meist groß genug, um einen Einzelberater oder ein Kleinunternehmen mit ein, zwei Angestellten zu ernähren – sofern Sie Ihre Zielgruppe nach der Positionierung mit der erforderlichen Ausdauer und Konsequenz bearbeiten.
Nischen-Positionierung oder „Big Business“?
Fraglich ist bei einer solcher Positionierung jedoch oft: Lässt sich in der avisierten Nische ein größeres Unternehmen aufbauen? Das ist häufig nicht der Fall. Deshalb konnte Helen Bender, als sie 2014 ihre Geschäftsidee in der Fernseh-Show „Die Höhle der Löwen“ präsentierte, auch keinen der anwesenden prominenten Investoren als Geldgeber gewinnen – obwohl diese alle von ihrer Geschäftsidee begeistert waren. Sie bezweifelten jedoch, dass der Markt für lesbische Brautmode groß genug ist, um daraus ein echtes Big Business zu machen. Vielleicht würden die Investoren heute, nachdem klar ist, das Gesetz für gleichgeschlechtliche Ehen tritt in Kraft, sich anders entscheiden. Für Helen Bender hat sich ihr Festhalten an ihrer Geschäftsidee auf alle Fälle gelohnt.
Zum Autor: Dieser Artikel ist Teil einer Kooperation mit Bernhard Kuntz, Geschäftsführer der PRofilBerater GmbH, Darmstadt, die Trainer, Berater und Coachs bei ihrer Selbstvermarkung unterstützt. Er ist u. a. Autor des Marketing-Ratgebers „Die Katze im Sack verkaufen“.