Hierarchiefreies Arbeiten, Home-Office und Feel-Good-Manager – über die Annehmlichkeiten der schönen neuen Arbeitswelt wird aktuell viel berichtet und viel diskutiert. Doch für wen gelten diese eigentlich – und für wen werden sie immer ein Traum bleiben? Karriere-Coach Dr. Reiner Czichos räumt mit den gängigsten Mythen rund um modernes Arbeiten und moderne Führung auf.
Zahlreiche Experten verkünden den Aufbruch in eine neue Unternehmens- und Führungskultur. Glaubt man den Prognosen, so wird alles selbstbestimmter, freier, besser. Die Mitarbeiter haben die Macht – Unternehmen müssen einiges tun, um sie für sich zu gewinnen, Manager müssen sich entsprechend umstellen. Die vielbeschriebenen Trends zeichnen das Bild einer schönen neuen Arbeitswelt:
– Hierarchien werden abgeschafft.
– Mitarbeiter erhalten mehr Freiheiten, wie z.B. Home Office oder freie Projektwahl.
– Führungskräfte können selbst gewählt werden.
– Führungskräfte fungieren als Coach.
– Büroräume werden zu Lounge-Landschaften.
– Feel-Good-Manager sorgen für Rundum-Betreuung.
Das alles sei angeblich nötig, damit sich Unternehmen am Markt behaupten können. Die Digitalisierung zwinge sie geradezu dazu. Unternehmen, die da nicht mitmachen, werden es schwer haben, überhaupt noch Mitarbeiter zu bekommen, so der Tenor, vor allem die begehrten, seltenen Fachkräfte und schon gar nicht die ganz jungen aus der Generation Y oder Z.
Träume vom Hierarchie-Abbau
Nun träume ich ja auch seit mehr vier Jahrzehnten von Hierarchie-Abbau und von Managern als Coachs. Und auch ich bin überzeugt, dass dies eine bessere Unternehmenskultur und Mitarbeiterführung wäre. Und auch ich meine, dass Digitalisierung das ermöglichen kann.
Allerdings gibt es hier einen signifikanten Unterschied zu beachten: Digitalisierung ermöglicht zwar neue Führung. Sie ist aber nicht die zwingende Konsequenz bzw. die einzige logische Schlussfolgerung.
Die Privilegierten
Ganz eindeutig gibt es viele Berufe oder Jobs, in denen die Mitarbeiter die gehypten Freiheiten haben und genießen dürfen: IT- und andere Beratungsunternehmen, PR- und Werbeagenturen, Start-ups. Auch Mitarbeiter in großen Unternehmen, in den Zentralen, kaum aber in kleineren Zweigstellen. Auffallend ist: Die in hunderten von Artikeln zu „Führung im Zeitalter der Digitalisierung“ gerne zitierten Beispiele beziehen sich fast ausnahmslos eben auf diese Art von Unternehmen.
Aber was ist mit dem Rest?
Und nun schauen Sie mal genauer auf beispielsweise folgende Beschäftigungsgruppen: Briefträger, Paketzusteller, Essenslieferdienste, rings um den Globus verteilt lebende und arbeitende selbständige Klickworker, Lkw-Fahrer, Bauarbeiter, Monteure, alle in der Produktion Verbliebenen, Servicekräfte in Hotels und Restaurants, etc. Diese Liste kann man sicher noch verlängern. Sicher gehören auch Polizisten, Pflegekräfte dazu. Was ist hier mit Home-Office, sich Projekte aussuchen, Vorgesetzte auswählen, Lounges als Arbeitsräume, etc.. Kommt hinzu, dass viele dieser Menschen in einigen Jahren durch Automatisierung und Roboter ersetzt werden könnten.
Ja, auch Softwareprogrammierer gehören in diese Liste derer, die im Dunkeln sind bzw. bald sein werden: Sie müssen ihren Teil an der Entwicklung größerer Systeme beitragen und haben nicht die Freiheit, darin besonders kreativ zu sein, denn was sie programmieren, muss den technischen, wirt-schaftlichen und zeitlichen Vorgaben entsprechen. Gewiss, diese Programmierer können auch im Homeoffice oder am Strand arbeiten, sie können aber jetzt schon minutengenau überwacht und gemessen werden. Gleichzeitig wissen sie auch, dass sie dank Künstlicher Intelligenz bald nicht mehr gebraucht werden. Auch Softwareprogrammieren wird automatisiert. Maschinen programmieren sich selbst bzw. werden von Maschinen programmiert. Nur wenige Software-Gurus und Berater entwickeln die Ideen.
Ähnlich übrigens in der Modebranche: Einige wenige Kreative entwerfen die Kollektionen, viele Mitarbeiter müssen das nach genauen Vorgaben lediglich umsetzen. Genauso in der Entwicklung von neuen Produkten und Services, auch von denen, die durch die innovativen Geschäftsmodelle (dank Digitalisierung) möglich werden.
Wohin mit den Mittelmanagern?
Fast zynisch mutet es an, dass die von innovationsbegeisterten Führungskräften geführten innovativen Mitarbeiter bei der digitalen Transformation mithelfen, ihre Jobs eben durch die Digitalisierung überflüssig zu machen.
Also die Schicht der Mittelmanager ausdünnen und diese Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen? Zumal ja auch viele Mitarbeiter durch Automatisierung und Algorithmen ersetzt werden und im digitalen Prekariat aufgehen werden. Für die Führung der in den Unternehmen Zurückgebliebenen braucht man halt weniger Mittelmanager, oder?
Man braucht sie doch, die Mittelmanager, aber anders!
Vielleicht wird man weniger Mittelmanager brauchen. Vielleicht wird man aber weit mehr brauchen, als viele voraussagen. Für eine Übergangsphase in die „vollständige“ Digitalisierung wird man sie auf jeden Fall noch als Change Manager brauchen. Wer anders könnte all die mit der digitalen Transformation einhergehenden Änderungen im Unternehmen um- und durchsetzen? Doch Mittelmanager werden wohl in der Transformation sprichwörtlich an ihrem eigenen Ast sägen.
Die noch weiterhin benötigten hoch qualifizierten Fachkräfte können – und wollen auch – sich wahrscheinlich selbst managen und in Projekten flexibel arbeiten, so wie es in den Visionen der schönen, neuen Arbeitswelt beschrieben wird. Diese hoch qualifizierten Fachkräfte sind aber auch volatil, sie reagieren sensibel darauf, wie sie gemanagt und geführt werden. Und andere Unternehmen warten nur darauf, frustrierte Professionals abzuwerben.
Vielleicht trifft hier die Analogie zu Managern von Stars in Kunst, Kultur, Musik und Sport zu. Hochqualifizierte Professionals brauchen Betreuung und Ansprechpartner. Sie brauchen Manager – allerdings hat dieser Begriff dann eine ganz andere Bedeutung als „Chef“. Manager bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine Person, die für den Professional, den Star also, Dinge erledigt. Sie wollen:
– frei gehalten werden von all den Dingen, die sie davon abhalten, ihr Expertentum einzusetzen.
– selbstverständlich eine für sie geeignete Arbeitsumgebung und die geeigneten Arbeitsmittel; darum wollen sie sich nicht extra kümmern müssen.
– im Prinzip sich mit keinerlei Problemen herumschlagen, die nicht mit ihrer Expertenrolle zu tun haben.
– auch frei gehalten werden von all dem Ärger, der mit sich mit Auftraggebern bzw. Kunden ergeben könnte.
– von Auftraggebern engagiert werden und sich selbst wenig darum kümmern müssen, das sollen die „Manager“ übernehmen.
– sie brauchen auch Betreuer, Coachs, Berater, die ihnen Feedback geben, ihnen ihre Performance zurückspiegeln, und die ihnen vielleicht auch Hinweise darauf geben es Zeit wird, sich neues Know-how anzueignen, weil in dieser schnelllebigen Zeit auch Expertentum schnell obsolet werden kann.
Über wen reden wir hier eigentlich?
Und so scheint es, dass „wir“ – wenn es um die schöne neue Arbeitswelt und um die schöne neue Führungskultur geht – im Prinzip nur über die Kreativen, die wirklich nicht durch Automatisierung und Algorithmen ersetzbaren Wissensarbeiter und über die Top-Experten sprechen, also eigentlich nur über die Führung von Priviligierten reden.
„Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ (Bertolt Brecht, Dreigroschenoper)