Räumlich entfernt aber emotional ganz nah: So effektiv kann E-Coaching sein

Professor Dr. Harald Geißler von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg gilt als einer der führenden Experten für E-Coaching. Mit XING Coaches spricht er über den Trend des E-Coachings und die Chancen und Möglichkeiten für Coaches und Ihre Klienten.

 

XING Coaches: Guten Tag Herr Prof. Dr. Geißler. Man liest im Zusammenhang mit E-Coaching oft verschiedene Namen für diesen Weg (virtuelles Coaching, online Coaching, digitales Coaching etc.). Deswegen zunächst einmal zu den Begrifflichkeiten: Bedeuten die Bezeichnungen alle dasselbe oder muss man hier differenzieren?

Prof. Dr. Geißler: Ja, diese Begriffe werden weithin identisch benutzt. Ich persönlich denke jedoch, dass hier eine Differenzierung notwendig ist. Denn die modernen Medien können für zweierlei genutzt werden. Die erste Funktion ist, Coaching orts- und teilweise auch zeitunabhängig zu machen. Zu diesem Zweck können die modernen Kommunikationsmedien der synchronen und asynchronen Video-, Audio- und Textkommunikation genutzt werden. Solche Coachings kann man sinnvoll als Remote Coachings, Online-Coachings oder Distance Coachings bezeichnen.

Die zweite Funktion ist, dass die modernen Medien den Klienten bei seinem Problemlösungsprozess (z.B. im Selbstcoaching oder auch im Face-to-Face-Coaching oder im Distance Coaching) unterstützen können. Hier wäre der Begriff „Virtuelles Coaching“ sinnvoll. Die Begriffe E-Coaching oder vielleicht auch Digital Coaching schließlich decken meiner Einschätzung nach beides ab.

 

XING Coaches: E-Coaching scheint ein aufstrebender Trend in der Coaching-Branche zu sein. Neben dem offensichtlichen Vorteil, dass es günstig und flexibel ist, kann virtuelles Coaching jedoch nicht so nah am Klienten sein, wie klassisches Coaching. Wie schätzen Sie die Chancen aber auch Schwierigkeiten von E-Coaching gegenüber dem klassischen Coaching ein?

Prof. Dr. Geißler: Räumliche Nähe ist nicht mit mentaler Nähe zu verwechseln. Die Telefonseelsorge macht das eindrucksvoll deutlich. Denn hier öffnen sich die Menschen am Telefon sehr schnell und tiefgreifend, und zwar vor allem auch deshalb, weil sie wissen, dass sie nicht gesehen werden. Genau dasselbe gilt auch für Coaching. Aus diesem Grunde empfehle ich den Teilnehmenden meiner Online-Coachingausbildung, die Videokommunikation im Wesentlichen nur für das erste Kennenlernen zu nutzen, weil die meisten Menschen zunächst einmal stark auf das Sehen fixiert sind.

Für das Coaching im engeren Sinne hingegen halte ich die Telefonkommunikation für geeigneter, weil sie – wie gesagt – dem Klienten einen visuellen Schutzschild bietet und es deshalb leichter fällt, sich insbesondere auch emotional zu öffnen.

 

XING Coaches: Welchen Coaches oder zu welchen Anlässen empfehlen Sie über E-Coaching nachzudenken?

Prof. Dr. Geißler: Die Nutzung der modernen Kommunikationsmedien macht es wirtschaftlich vertretbar, wenn Coachings öfters auch mal nur eine halbe Stunde dauern. Für solche Kurzzeit-Coachings gibt es einen wachsenden Markt – beispielsweise bei der Nachbetreuung von Seminaren oder Workshops. Und natürlich ist es sinnvoll zusätzlich zu den modernen Kommunikationsmedien auch passende elektronische Problemlösungsmedien einzusetzen. Das alles spricht für die Nutzung der modernen Medien.

 

XING Coaches: Gibt es auch Anlässe bei denen Sie Coaching über moderne Medien für eher ungeeignet halten?

Prof. Dr. Geißler: Es stimmt, dass E-Coaching nicht immer sinnvoll ist. Denn vor allem für das Coaching von Tandems oder Gruppen ist es weniger geeignet. Und noch eine zweite Grenze ist zu beachten. Coachingsitzungen mit modernen Kommunikationsmedien sind zwar auf der einen Seite effektiver als Face-to-Face Sitzungen, weil man schneller zu guten Ergebnissen kommt. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass sie anstrengender sind. Wenn also Coachingsitzungen von 2-3 Stunden notwendig sind, dann sollten diese face-to-face durchgeführt werden.

 

XING Coaches: Meinen Sie, man kann analoge Coaching-Methoden einfach in die digitale Welt übertragen? Oder, wenn das nicht so einfach ist, welche Anpassungen müssten Coaches beachten?

Prof. Dr. Geißler: Wir müssen sehr sorgfältig zwischen Coaching-Methoden und Coaching-Medien unterscheiden. Methoden beziehen sich auf die Vorgehensweise im Coaching und Medien auf die technischen Träger der Kommunikation. Auf dieser Grundlage kann man sagen, dass bis auf eine Ausnahme alle analogen Coachingmethoden auch im E-Coaching genutzt werden können. Diese Ausnahme bezieht sich auf Methoden, für die körperliche Sinneserfahrungen von zentraler Bedeutung sind, wie zum Beispiel die Coachingarbeit mit Ton oder Knetgummi. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass es elektronische Problemlösungsmedien gibt, die völlig neue Möglichkeiten analoger Coaching-Methoden eröffnen. Ich denke da vor allem an die Arbeit mit Avataren, also menschähnlichen Wesen, die sich in virtuellen Räumen bewegen. Denn hier bietet sich die Möglichkeit, dass der Klient in die Rolle eines Avatar schlüpft und neue Handlungen ausprobiert, deren Erprobung in der Wirklichkeit große Ängste auslöst. So kann er beispielsweise als Avatar gefahrlos ausprobieren, wie er sich besser gegen Aggressionen anderer wehren kann, indem er selbst auch einmal ein bisschen aggressiver wird.

 

XING Coaches: Sie forschen nun schon seit einigen Jahren zum klassischen Coaching und – seit dem es das gibt – auch zum E-Coaching. Sind aus der wissenschaftlichen Perspektive die Erfolge von E-Coaching mit denen aus dem klassischen Coaching zu vergleichen?

Prof. Dr. Geißler: Coaching mit modernen Medien ist eine Innovation der letzten Jahre. Und viele Coaches haben immer noch Probleme, sich ihr zu öffnen. Aus diesem Grunde gibt es bisher sehr viel weniger wissenschaftliche Untersuchungen zum E-Coaching als zum traditionellen Coaching. Wir müssen deshalb mit entsprechenden Aussagen vorsichtig sein. Aber eines deutet sich bereits an, nämlich dass bestimmte Formen des E-Coachings oft effektiver sind als viele traditionellen Coachings.

 

XING Coaches: Denken Sie, dass das E-Coaching das klassische Coaching in der Zukunft ersetzen kann oder wird?

Prof. Dr. Geißler: Mit Blick auf die nächsten Jahre rechne ich damit, dass der Coachingmarkt noch einmal einen deutlichen Wachstumsschub erleben wird, und zwar durch die verstärkte Nutzung von E-Coaching. Das bedeutet: Zum traditionellen Coaching, dessen Volumen stabil bleibt, wird in den nächsten Jahren zusätzlich viel E-Coaching hinzukommen. Auf etwas längere Sicht wird das dann aber auch dazu führen, dass immer mehr traditionelles Coaching durch E-Coaching substituiert wird. Aber das wird seine Grenzen haben. Ich kann mir vorstellen, dass aufgrund der deutlich höheren Kosten Face-to-Face Coaching zum Beispiel für Top-Manager zunehmend zu einer Art Statussymbol wird.

 

XING Coaches: Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Geißler, für die Beantwortung unserer Fragen. Ich denke, Sie haben sowohl Coaches als auch interessierten Klienten einen guten Einblick in die Grundlagen, aber auch die Zukunft von E-Coaching geben können.