Ungefähr 15-20 % der Bevölkerung ist hochsensibel (HSP = Highly Sensitive Person). Das bedeutet, sie nehmen Reize aus ihrer Umwelt sehr viel stärker wahr, als andere. Dieses psychologische und neurophysiologische Phänomen führt zu extremen Stresssituationen im Alltag der Betroffenen. Expertin Eva Maria Sell (Personalberaterin, Coach und selbst hochsensibel) verrät, was Personaler im Umgang mit Hochsensiblen beachten sollten.
Hohe Wahrnehmungsfähigkeit und Sozialkompetenz durch Hochsensibilität
Ben hat sich nach seinem Studium für das Angebot einer Personalberatung entschieden. Dort startet er als Recruiting-Consultant. Die ersten Monate sind hart für ihn und er tut er sich sehr schwer während der Einarbeitung. Obwohl ihn seine Kollegen aufziehen und belächeln wegen seiner Feinfühligkeit, wird er von seinem Chef mit Geduld unterstützt und gefördert. Ben ist hochsensibel und hochsensitiv und hat dadurch ein feines Gespür für Menschen, deren Bedürfnisse und Stimmungen. Außerdem merkt er häufig recht früh, welche Strategien die Menschen (Kunden und Kandidaten) in seinem Umfeld verfolgen. Das Ergebnis: Nach nur einem Jahr konnte Ben als erfolgreichste Nachwuchskraft seit Bestehen der Niederlassung überzeugen. Seine Umsätze sind im Vergleich zu den berufserfahrenen Kollegen (die ihn jetzt übrigens sehr ernst nehmen) für einen Newcomer unglaublich. Dass er auf seine gute Menschenkenntnis vertraut, hat sich für seinen Chef also ausgezahlt.
Herausforderung Großraumbüro
Soweit so gut – Erfolg macht jedem Mitarbeiter Spaß – auch den Hochsensiblen. Aber die Herausforderungen steigen stetig. Teams vergrößern sich monatlich und die Arbeitsumgebung, besonders Großraumbüros, machen hochsensiblen Mitarbeiten zu schaffen. Häufig sind sie schon am späten Vormittag völlig erschöpft und entnervt. Sie arbeiten mit zeitweise mehr als 10 Kollegen und Kolleginnen an einem langen Tisch in einem Großraumbüro zusammen. Alle arbeiten, reden und telefonieren durcheinander. Möchte sich der einzelne Mitarbeiter auf seine E-Mails konzentrieren, wird er über den Tisch permanent angesprochen und gestört, auch bei Telefonaten. Hochsensible Mitarbeiter sind selbstbewusst, lösungsorientiert und experimentieren vielleicht mit einem Kopfhörer, um in Ruhe arbeiten zu können. Nun liegt es am Unternehmen eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, oder zuzulassen, in der sich auch hochsensible Mitarbeiter wohl fühlen und ihr Talent entfalten können.
Identifizieren von hochsensiblen Mitarbeitern
Hören Sie auch auf die leisen – die lautesten sind nicht immer die leistungsstärksten Mitarbeiter. Kommt Ihnen das bekannt vor? Rhetorisch gewandt und brillant, ausdrucksstark und gewieft, sie stehen auf jeder Firmen-Veranstaltung im Vordergrund. Mitarbeiter, die aus ihrer Meinung keine Mördergrube machen. Der Vorteil dieser Kollegen ist, dass die Zuhörer nur zugut über deren Befinden Bescheid wissen, doch wie steht es mit deren Performance? Sind das auch ihre Leistungsträger? Nehmen Sie auch bewusst die zurückhaltenden leisen Menschen in Ihrem Firmenumfeld wahr. Hochsensible sind häufig introvertiert, stehen nicht gerne im Mittelpunkt und erledigen ihre Herausforderungen im Verborgenen. Erhalten auch diese Menschen genügend Luft und Spielraum, sich in Ihrem Unternehmen mitzuteilen? Wie steht es mit deren Zufriedenheit, werden Sie überhaupt gehört. Teamgrößen bis maximal 12 Mitarbeiter haben den Vorteil, dass sie deren Leiter ausreichend betreuen kann, sofern er dazu überhaupt ausgebildet ist und entsprechende Sozialkompetenz besitzt.
Nur ein gesunder Mitarbeiter ist ein zufriedener Mitarbeiter
Wie steht es mit dem Gesundheits-Management in Ihrem Unternehmen? Spielen dort auch Aspekte, wie krankmachender Lärm, Gerüche, blinkende Lichter, fensterlose Arbeitsplätze eine Rolle? Firmensport-Angebote sind wichtig und richtig. Aber darüber hinaus – hören Sie mehr auf die Menschen in Ihrem Unternehmen. Starten Sie ein Ideen-Programm mit Preisausschreiben oder eine Mitarbeiterbefragung. Sicher werden Sie über die Vielfalt der Vorschläge überrascht sein. Dieser Aufwand lohnt sich in jedem Fall! Denn die erfolgreichsten Unternehmen sind gleichzeitig die mit den zufriedensten Mitarbeitern!
Bauen Sie auf Individualität und Flexibilität
Zurück zu unserem Beispiel mit Ben – er hat übrigens gekündigt und einen neuen Arbeitgeber gefunden. Bei den Bewerbungs-Gesprächen hat er mit offenen Karten gespielt und seine Empfindlichkeit gegen Lärm thematisiert. Im Vorfeld hat er ein Coaching für sich in Anspruch genommen, wo auf seine besondere Veranlagung eingegangen werden konnte. Noch vor Vertragsunterzeichnung wurden Vereinbarungen mit seinem neuen Chef getroffen, welche Räume er bei Bedarf benutzen kann, wenn er sich zurückziehen möchte. Gegen die Benutzung eines Kopfhörers gab es grundsätzlich keine Einwände und Nutzung von Homeoffice war Bestandteil seiner flexiblen Arbeitsmöglichkeiten. Nach seiner Probezeit hat er
Teamverantwortung für zwei Absolventen übernommen. Seine komplexe Wahrnehmungsfähigkeit, emphatisches und moralisches Wertempfinden sind gute Eigenschaften für eine Führungskraft.
Hochsensible wollen gefördert werden und sich weiterentwickeln. Dazu benötigen Sie ein entsprechendes Umfeld.