Vorurteile vermeiden – ein Plädoyer für mehr Demut und Offenheit im Coaching

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen als Coach eines schönen Morgens vor Ihrem Coachee, der in seinem Leben etwas neu oder anders machen will oder soll – was, wissen Sie nicht. Schon gar nicht, was der Anlass seines Kommens war und woran gemessen wird, ob sich der Besuch sinnvoll ist. Was tun?

Denn Sie haben leider keine Ahnung über Einstellungen, Annahmen, Vorurteile, Erfahrungen des Coachees über Sie, seine eigenen Themen und Ziele. Außerdem wissen Sie nicht, welches sein beruflicher, familiärer, gesundheitlicher Hintergrund ist. Überhaupt keine Ahnung haben Sie von seinen Ängsten, Hoffnungen, Träumen und Wünschen. Außerdem kennen Sie nicht die aktuelle Situation des Coachees, sein Wissen, seine Vorkenntnisse, seine Kompetenzen, seine Erwartungen. Sie werden als Coach also beurteilt nach Maßstäben, die Sie nicht kennen oder von denen Sie nicht wissen, ob Sie sie richtig verstehen. Und dann gibt es noch viele relevante Dinge, von denen Sie noch nicht einmal wissen, dass Sie sie nicht wissen. Wie also können Sie in einer solchen Situation überhaupt gezielt wirksam werden?

 

Entwickeln Sie eine Haltung der Demut und der Offenheit

Demut erkennt und akzeptiert aus freien Stücken, dass es etwas Unerreichbares gibt. Zu viele Faktoren beeinflussen die Entwicklung, als dass Sie alle kontrollieren könnten. Und manche Coachees haben manchmal eine erstaunliche, kaum nachvollziehbare Kompetenz im Aufrechterhalten von Problemen. Überschätzen Sie sich nicht: Sie werden weder den Coachee noch die Welt retten. Erfreuen Sie sich an kleinsten Entwicklungsschritten des Coachees auf dem Weg in seine Kraft der Verantwortung. Arbeiten Sie in Geduld und Gelassenheit.

Manchmal kommen auch ganz überraschend während des Coaching-Prozesses neue Einflussfaktoren dazu. Bleiben Sie offen und achtsam dafür. Offenheit ist die Bereitschaft, ohne Bewertung zur Kenntnis zu nehmen, ist das Staunen über das, was es nicht so alles gibt. Sie nimmt zur Kenntnis, ohne das Wissen mit einem Ideal abgleichen oder gestalten zu wollen.

Nutzen Sie Ihr ungeleitetes Interesse, ohne den Wunsch entstehen zu lassen, fehlendes Wissen durch Phantasien, unsichere Interpretationen, unplausible Annahmen oder waghalsige Hypothesen zu ersetzen. Dafür bekommen Sie ein völlig anderes, vorurteilsfreieres Bild Ihrer Umgebung, da Sie weniger (für Sie scheinbar unwichtigere) Informationen ausblenden.

Manchmal sind es homöopathische Verabreichungen und keine großen Events, die für Entwicklung verantwortlich sind. Mit einem guten Blick auf „was ist möglich?“, „inwieweit darf ich Sie irritieren?“ und „welche guten Gründe haben Sie, das Problem aufrechtzuerhalten?“ können Sie dem Coachee mit Demut und Offenheit, sprich mit Respekt vor seiner Würde und Selbstverantwortung begegnen.