Eile oder Weile: Welche Erfolgsfaktoren bei der Digitalen Transformation wirklich zählen

Unternehmer und Manager werden von IT-Experten und Unternehmensberatern oft zur Eile angetrieben: „Wenn Sie die Digitale Transformation nicht sofort anpacken, dann werden Sie in zehn Jahren nicht mehr auf dem Markt sein!“ Ist diese Eile gerechtfertigt oder gar gefährlich? Folgendes Praxisbeispiel zeigt, worauf es ankommt.

Die Aufgabe, neue IT-Lösungen einzuführen, klingt zunächst einmal einfach und harmlos, ein vermeintlicher Selbstläufer. Die Digitale Transformation mit einem Unternehmen zu bestreiten erfordert aber so viel mehr. Es geht darum, Prozesse und damit die Rollen und das Verhalten von Mitarbeitern zu verändern, insbesondere das Verhalten von Managern. Das geht nicht von heute auf morgen und erfordert einen Strukturwandel, begleitet durch einen professionellen Change-Prozess.

Wer das nicht verinnerlicht, kann sich ernsthafte Probleme einhandeln. Dies ist die wahre Geschichte einer digitalen Transformation in einem Traditionsunternehmen in einer Zeit, in der es erst wenige coole Digitalisierungsbegriffe gab. Es ist erst fünf Jahre her und zeigt, welche Faktoren wichtig sind und wie ein umfangreicher Change-Prozess erfolgreich aufgebaut werden kann.

Das Unternehmensprofil

Das Unternehmen ist mit Produktinnovationen auf der Basis des schon seit mehr als 100 Jahren verarbeiteten Rohstoffs zu einem Zulieferer für Pkw- und Lkw-Hersteller geworden und in den vergangenen Jahren durch Aufkauf von Mitbewerbern, deren Expertise und deren Kunden gewachsen. Die Eckdaten:

– 3 Business Units,
– 10 Funktionen (Engineering, Produktion, etc.),
– 10 rechtliche Unternehmenseinheiten im Konzern,
– 24 Werke,
– 500 Mitarbeiter, verteilt über 10 europäische Länder.

Das Ziel: Performance-Steigerung durch PLM-Einführung

Um die Komplexität in den Griff zu bekommen und die Produktivität in der Produktentwicklung zu steigern, wurde vor etwa 15 Jahren ein Product Life Cycle Management (PLM) initial eingeführt, vor zehn Jahren musste es zum zweiten Mal eingeführt werden. Zunächst waren die Manager bei den ersten beiden Einführungen begeistert von dem zügigen Projektabschluss. Alles ging schnell und reibungslos, Kosten und Termine wurden eingehalten, alle betroffenen Mitarbeiter in der Anwendung geschult. Schlüsselfertig, ohne dass sich die Manager darum kümmern mussten.

Das Ergebnis: Desaströse Zustände, Auftragsverluste und Entlassungen

Aber: Die vom IT-Hersteller versprochene Performance-Steigerung traten in beiden Fällen nicht ein. Die Manager des Unternehmens lernten auf die harte Tour, dass das Unternehmen für ein funktionierendes PLM möglichst ohne bereichs-spezifische, hierarchische und voneinander abgeschottete „Silos“ aufgestellt werden muss. In der bestehenden Struktur führte das PLM dazu, dass man ineffizient arbeitete, Doppel- bis Dreifacharbeit war vorprogrammiert. Es knirschte in der kompletten Prozesskette, der Firefighting-Modus wurde zum Standard. Kunden, die Automobilhersteller, stellten in ihren Audits immer wieder schwere Mängel in den Prozessen und in der Einhaltung von Standards fest. Das Unternehmen verlor Kunden und Aufträge. Um Kosten zu sparen, mussten Mitarbeiter entlassen werden, auch Manager. Die Kunden machten Druck, wollten nicht nur niedrigere Preise, sondern auch stark erhöhte Qualität und die Einhaltung und Nutzung derselben Standards und IT-Systeme in allen Werken überall in Europa. Ein Teufelskreis, aus dem man ausbrechen musste.

Der dritte Anlauf: Re-Start bei Null

Das Unternehmen entschloss sich vor fünf Jahren zu einem dritten Anlauf. Dieses Mal sollte es richtig gemacht werden. Mitarbeiter und auch die meisten Führungskräfte im Unternehmen waren inzwischen skeptisch: „Das klappt doch wieder nicht. Was soll das alles?“ In einem dreitägigen Meeting mit allen Führungskräften kam der Durchbruch. Man hatte sich in leidenschaftlich-konfliktgeladenen Diskussionen zu einer ganzen Reihe schmerzhafter Erkenntnisse durchgerungen:

– Man kann nicht mit der „kick-and-rush“-Methode schnell mal angeblich einfache IT-Systeme einführen.

– Mit der Einführung eines IT-Systems passen sich Strukturen und Prozesse keineswegs automatisch an, und schon gar nicht menschliches Verhalten.

– Führungs- und Kommunikationsseminare bewirken keine nachhaltigen Verhaltensänderungen.

Die logische Konsequenz: Statt nur ein IT-Projekt zu starten, wurde ein umfassendes Change-Projekt gestartet. Als Ziele wurden definiert:

1. Die Unternehmens-, Führungs- und Kommunikationskultur, soll zu einer Kultur der Open Collaboration und Open Innovation umgewandelt werden. Es gab keine lange Henne-und-Ei-Diskussion, was man zuerst ändern müsse, ob zuerst die Unternehmenskultur oder die organisatorischen Prozesse und Strukturen. Beide bedingen sich gegenseitig. Also entschied man, dass durch das Vorgehen im Change-Projekt diese gewünschte neue Kultur erlernt und als Beispiel vorgelebt werden solle.

2. Durch das Vorgehen im Change-Projekt soll die gewünschte neue Kultur von den Managern vorgelebt und erlernt werden. Manager und Mitarbeiter werden also nicht wieder durch Seminare geschleust, die in der Vergangenheit kaum sichtbare Veränderungen brachten.

3. Man wird ein komplett neues Management-System aufbauen statt nur PLM einzuführen. Bevor eine technische Lösung definiert und implementiert wird, muss das Unternehmen prozessorientiert aufgebaut werden. Dazu wird zuerst betrachtet, wie das Unternehmen mit welchen Prozessen und Strukturen bisher läuft, um dann ein Re-Design zu machen. So soll sichergestellt werden, dass das neue Informationssystem genutzt wird.

Die 7 kritischen Erfolgsfaktoren des Change-Management-Projekts

1. Eine klare Vision von der angestrebten Unternehmens- und Führungskultur

„Wir begeistern unsere Mitarbeiter, unsere Kunden und unsere Anteilseigner und erhöhen unsere Produktivität und Profitabilität sowie unsere Attraktivität durch Transparenz (Standards, klare Verantwortlichkeiten, klar definierte Schnittstellen), Flexibilität (schnelle Antworten auf Kundenwünsche unter gleichzeitiger Einhaltung derselben Standards überall in Europa, Open Innovation) und Effizienz (Team-Entscheidungen, fokussierte Kommunikation).

Wir entwickeln unsere Unternehmenskultur hin zu offener Kommunikation und Kollaboration in Teams und zu Disziplin bei der Einhaltung von Vereinbarungen und Spielregeln. Wir schaffen eine Führungskultur, in der das Potenzial der Mitarbeiter erkannt, gefördert, gefordert und genutzt wird.“

2. Der CFO als Change Manager in der Verantwortung

Die Rolle des Change Managers wurde nicht an einen High Potential aus der zweiten oder gar dritten Reihe übertragen. Der CFO übernahm diese Rolle und die Verantwortung. Es wurde keine Unternehmensberatung engagiert, die Analysen durchführt, Papiere erstellt oder gar das Projekt steuert. Stattdessen engagierte man als Sparringpartner für den CFO einen erfahrenen Change Consultant. Je nach Bedarf sollte dieser die folgenden Rollen einnehmen: Berater für CFO und das Management-Team, Coach, Redakteur bzw. Autor, Moderator und Trainer.

Aber der CFO stand im Rampenlicht, genau wie der CEO als Sponsor für das Projekt. CEO, CFO und das Management-Team versteckten sich dieses Mal nicht hinter Beratern, sie standen den Mitarbeitern gegenüber voll für den Change. Die Bedeutung und die Ernsthaftigkeit der Veränderungen wurden dadurch deutlich betont.

3. Eine eigene Change-Organisation

Größere Veränderungen im Unternehmen macht man nicht mal so neben oder nach der eigentlichen Arbeit. Change Management ist zentrale Management-Aufgabe. Deswegen wurde eine Change-Organisation über der bestehenden funktionalen Organisation aufgebaut. Alle Mitarbeiter wurden darüber informiert, wer welche Verantwortung, welche Rolle und Aufgaben im Projekt hat. Kein Manager versteckte sich, um sich ggf., wenn es mal zu Problemen kommt, besser aus der Verantwortung ziehen zu können.

Die Rollen:

a) Der CEO selbst als Sponsor.

b) Das Management-Team als Steering Committee.

c) Der CFO als Change Manager, mit dem Berater als Sparringpartner.

d) Aus jeder Funktion wurde ein User Project Manager ausgewählt. Diese zwölf fungierten als Botschafter und Multiplikatoren in die Funktionen hinein, sie übernahmen Teilprojekte und auch das Training aller Manager und Mitarbeiter in diesem neu zu erarbeitenden prozess-orientierten Organisations- und Management-Konzept. Sie wurden für die gesamte Dauer des Projekts (12 Monate) zu 30 Prozent von ihren sonstigen Aufgaben freigestellt. Mit ihnen wurden individuelle Change-Ziele vereinbart, in ihrer Rollen berichteten sie an den CFO. In drei zweitägigen Trainings zu Change Management, Führung und Coaching sowie Training- und Workshop-Moderation wurden sie fit gemacht, definierten ihre Rollen als Project Manager und entwickelten neue Ideen für den Change sowie ihre Teilprojekte.

e) Der CFO, der Berater und die User Project Manager wirkten in den Trainings und in den monatlichen zweitägigen Meetings zusammen als Projektteam. Zusätzlich hatten die User Project Manager ihren jeweiligen Funktionsbereichsleiter als Mentor, der sie dabei unterstützte, die Ziele, Botschaften, Inhalte/Konzepte etc. in den einzelnen Funktionen europaweit vorzustellen.

f) Aus den Countrymanagern und Funktionsbereichsmanagern wurde zusammen mit dem CFO und dem Qualitätsmanager eine neunköpfige Task Force Moderiert vom externen Berater erarbeiteten sie eine Bestandaufnahme aller Prozesse im Unternehmen, deckten die Schwach- bzw. -Konfliktstellen auf. Nach der Neuordnung der Prozesse erstellten sie ein erstes grobes Re-Design der Prozesslandschaft (Big Picture bzw. Process Landscape). Auf dieser Grundlage entwickelte der CFO zusammen mit Projektmanagern und dem externen Berater als Sparringpartner das neue prozessorientierte Organisations- und Management-System. Jeder der nun 15 Prozesse erster Ordnung und auch alle Prozesse zweiter und dritter Ordnung wurde von den Projektmanagern und den Process Ownern im Detail beschrieben, mit den Managern und Mitarbeitern der beteiligten Funktionen abgestimmt, und dann in einer Applikation dokumentiert. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, die Prozesse untereinander zu vernetzen, so dass klare Phasen und Verantwortlichkeiten sowie klare Schnittstellen sowie Service-Level-Agreements vereinbart wurden.

4. Der IT-Bereich als Zu-Arbeiter

Der IT-Bereich wurde über den CIO im Projektteam voll involviert als Mitarbeiter im Change-Projekt, das IT-Projekt als Teil-Projekt. Die neuen IT-Möglichkeiten wurden exploriert, Hard- und Software aufgerüstet. Die IT-Mitarbeiter mussten lernen, sich nach den Businessanforderungen auszurichten und verstehen, was in der neuen Unternehmenskultur und im Business erreicht werden soll. Die IT-Manager und -Mitarbeiter wurden zu Partnern der Businessmanager.

5. Die Kommunikationsarchitektur (Change-Marketing)

Mit zielgruppenorientierter, regelmäßiger und umfangreicher Kommunikation mit allen Mitarbeitern von Anfang an wurde ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Botschaft an alle: „Wir sind dabei, unsere neue Unternehmens- und Führungskultur umzusetzen; wir nehmen sie ernst.“ Die Kommunikation mit und Einbindung möglichst aller wurde ernst genommen. Die gelebte neue Unternehmens- und Führungskultur stellt sich wie folgt dar:

a) Ein Redaktionsteam, bestehend aus dem Berater, der Kommunikationsmanagerin und einem der Projektmanager, verantwortlich für das Change-Marketing, entwarf in Abstimmung mit dem CFO und den Projektmanagern das Konzept und den Redaktionsplan.

b) Um sicherzustellen, dass alle Beteiligten die gleichen Botschaften an ihre Mitarbeiter weitergaben, erstellten CFO und SP eine monatlich auf den neuesten Stand gebrachte Master-Präsentation (in Deutsch und in Englisch) mit Zielen, Konzepten, Plänen, etc.

c) Zusätzlich wurde ein Master-Meilensteinplan erstellt, regelmäßig aktualisiert und ebenfalls allen Managern zur Verfügung gestellt.

d) Die Linemanager wurden angehalten, alle drei Monate einen Workshop mit ihren Mitarbeitern zu machen, um sie über den Fortschritt des Projektes zu informieren, Fragen und Ideen zu sammeln, ggf. selbst zu beantworten bzw. an den CFO und das Projektteam weiterzuleiten.

e) Hilfestellung für die Manager:
Workshop-Designs
– User Project Manager konnten als Moderatoren angefordert werden.
– Nach einigen Wochen im Projekt erhielten alle Manager einen Coaching-Guide mit Hinweisen darauf, wie sie mit möglichen Widerständen und schwierigen Situationen im Change-Prozess umgehen können.

f) Das Redaktionsteam versandte jeden Monat einen einseitigen Newsletter per Mail an alle Mitarbeiter. Die Struktur des Newsletters:
– Tone of the top: Eine Botschaft jeweils eines anderen Mitglieds des Management-Teams
– Projektstatus
– Eine Erfolgsgeschichte
– Ein Interview mit einem der Aktiven
– Kurze, übersichtliche Erklärungen der Kern-Ideen bzw. Konzepte des neuen Management-Systems
– Fragen und Feedback von Mitarbeitern
– Info über die nächsten Schritte.

g) Alle vier Monate wurde eine repräsentative Anzahl von Mitarbeitern per Mail darüber befragt, wie sie den Fortschritt des Projektes einschätzten (Pulsfühlen).

h) Eine interaktive Hotline, besetzt von User Project Managern, nahm nicht nur Fragen und Feedback entgegen, sondern rief auch selbst aktiv Führungskräfte und Mitarbeiter an.

i) Nach Fertigstellung des neuen Management-Systems, der Prozesslandschaft und der neuen Spielregeln, machten die User Project Manager zusammen mit ihren Mentoren, den Funktionsbereichsleitern, Roadshows an allen Standorten, um das neue Management System vorzustellen und die Fragen der Mitarbeiter zu beantworten.

j) Alle Dokumente wurden mit unterschiedlichen Zugriffsrechten auf einem Server gespeichert. Mittels einer Collaboration-Software konnten die Aktiven im Projekt parallel und gemeinsam an Konzepten arbeiten.

k) Zusätzlich konnte die Anzahl der Präsenzmeetings durch Video- und Telefonkonferenzen reduziert werden. Dafür konnte man dann die wenigen Präsenzmeetings wieder verlängern.

l) Sonstige Absprachen und Termine: CFO und Berater trafen sich fast täglich, mindestens aber zweimal pro Woche, für jeweils mindestens ein, maximal zwei Stunden. Das Projektteam traf sich alle zwei Monate zu einem zweitägigen Meeting und zwischendurch, je nach Aufgabe, per Telefon- oder per Video-Konferenz. Es gab monatliche Telefon-Konferenzen mit Screen Sharing für Präsentationen des CEO und CFO mit allen Managern sowie wöchentliche, kurz auf den Punkt gebrachte Reports des CFO an alle Aktiven, und monatliche Reports des CFO im Steering-Committee.

6. Kultur-Workshops

Parallel, aber verbunden und koordiniert mit dem Change-Projekt, wurden unter Federführung des HR-Managers innerhalb eines Jahres in jeweils zweieintägigen Kultur-Workshops mit jeweils ca. 20 Managern die neuen Werte und Spielregeln diskutiert und weiter für die tägliche Führungspraxis ausgearbeitet.

7. Von der Change- in die Optimierungsorganisation

In den letzten drei Monaten des Projektes wurde parallel neben der Change-Organisation eine Organisation aufgebaut, die nach der Einführung der Veränderungen die kontinuierliche Optimierung der neuen Strukturen und Prozesse managen sollte. Ein Lean Business Process Manager mit einem Team von Managern als Process Ownern, rekrutiert aus den erfahrenen Projektmanagern, übernahm die laufenden Themen. Während die Change-Organisation abgebaut wurde, wurde so in einem nahtlosen Übergang die Optimierungs-Organisation aufgebaut.

Resüme

Man startete nicht gleich mit Innovations-Labs, um mit neuer Technik (Stichworte: Algorithmen, Big Data, Cloud, Internet of Things, etc.) innovative Produkte und Services zu erfinden, um dann ein neues Geschäftsmodell zu starten. Man hat sich Zeit genommen, das Unternehmen, die Manager und Mitarbeiter fit zu machen für die Transformation sowie erst einmal an den Prozessen und Strukturen und an der Unternehmenskultur zu arbeiten: Vom hierarchischen Silo-Denken zu Prozessdenken und zu dem, was man heute „Konsensuale Führung“ nennt.

Der Berater hat die Manager im Unternehmen befähigt, den weiteren Weg in und durch die Digitale Transformation selbst weiter voranzutreiben und sich dadurch überflüssig gemacht. Vier Jahre später schrieb der HR-Manager: Das Unternehmen „hat sich mittlerweile ein ganzes Stück weiterentwickelt, und es ist toll, die Fortschritte zu sehen.“